20. März 2019 / von Farina
Am Abend des zweiten Tages ohne Strom verabschiedet sich mein Handy, ich habe keine Fotos von den Tagen des „Apagon“, von unseren Gastgebern in Merida, von den Geiern auf den Müllhaufen überall in der Stadt, von den Resten der nächtlichen Guarimbas (gewalttätige Straßenproteste)…
Das Wochenende harren wir in der dunklen Wohnung von Marians Freundin aus. Jeden Tag fahren wir einmal in die Stadt, um etwas zu essen zu besorgen oder um Freunde zu treffen, Gerüchte aufzuschnappen. Manche haben manchmal Netz, andere ein Kabeltelefon. KeineR weiß wirklich etwas. Mindestens 18 von 23 Staaten für mindestens 3-4 Tage ohne Strom. Die Leute machen Witze, business as usual, soweit möglich, aber die Straßen sind merklich leerer als sonst, die Anspannung der Menschen ist spürbar.Die Schlangen vor den Tankstellen sind schon mehr als einen Kilometer lang an diesem 2. Tag, nur 2 haben scheinbar einen Generator zum Pumpen, aber vielleicht haben sie auch alle kein Benzin mehr. Überall knattern kleine Generatoren, ab und zu können damit sogar noch die „Puntos“ für Kartenzahlung betrieben werden, wenn es grade mal Netzabdeckung dafür gibt und deine Bank noch nicht kollabiert ist.
(Erklärung: in dieser Hyperinflation ist Bargeld knapp und wird nur für ganz bestimmte Dinge genutzt: öffentlicher Verkehr und Teile des Straßenmarktes, sonst basiert alles auf Kartenzahlung, und selbst die Gemüse-Dealer auf der Straße haben oft ein mobiles Kartenlesegerät, einen „Punto“. Durch den Stromausfall werden weite Teile der Bevölkerung mit einem Schlag zahlungsunfähig. Und die Banken geben natürlich auch kein Bargeld mehr aus.)
Alles ist furchtbar kompliziert. Auf dem Markt bekommen wir aber noch Obst und Gemüse nach langem Hin und Her. Am nächsten Tag in den größten Supermärkten gibt es zwar Licht und musikalisch-banale Bedudelung, aber Kartenzahlung ist nicht möglich. Bizarr. Teile der Supermärkte sind abgesperrt mangels Ware, in anderen Gängen stehen die Regale voll mit den immergleichen Produkten: 5qm Saft, 3qm Ketchup, Mayonnaise oder Fertigprodukte von Nestle. Bizarr und immer bizarrer. Und die Preise sind atemberaubend selbst für mich, sie haben locker europäisches Niveau. Mittlerweile kann ich sogar in Dollars bezahlen, kolumbianische Pesos hätten sie auch genommen, doch die habe ich natürlich nicht…Was für ein Privileg, Dollars in der Tasche zu haben! Das sichert uns zwei Mahlzeiten zu fünft und einen Teil der nächsten Busfahrt.
Ansonsten hocken wir in der schummrigen Wohnung, trinken Schnaps, essen viel -was bleibt auch?!- und reden und warten. Am Samstag kommt immerhin mal Wasser, wir nutzen die Chance und duschen uns alle, was gar nicht so leicht ist im fensterlosen Badezimmer und mit einem Eimer.
Und es wird wohl länger dauern mit dem Strom. In Merida sowieso, weil da der Strom immer zuletzt ankommt. Haha, vielleicht muss er ja vor den Bergen nochmal einen Imbiss nehmen, der Strom! – Ich bewundere wirklich den Humor der Leute hier…
Immer wieder mal erreicht eineR von uns Verwandte oder Freunde in anderen Städten: auch kein Strom, aber alles entspannt, man spielt Domino, betrinkt sich und kocht gemeinsam.
48 Std. ohne Strom. Es ist episch. Angeblich wurde der „Guri“ gehackt (von den Gringos vermutlich), das größte staatliche Wasserkraftwerk, das bis zu 80% des Landes mit Energie versorgt – mit Turbinen und Technik von Siemens übrigens. Das wird später auch die offizielle Version der Regierung sein. Mit z.T. putzigen und absurden Dementis und Seitendiskursen.
Die Leute nehmen es mit Humor, mit Gelassenheit und Witz: solange es zu essen gibt, gibt es kein Problem. Manche bereichern sich zwar, indem sie Generatorstrom verkaufen, um Handies zu laden, aber andere laden die Nachbarn und Familie zu einem Festessen ein, sie hatten hübsch eingekauft und auch Fleisch eingefroren (weil man das Geld nicht sparen kann, spart man gerne in Naturalien, z.B. eben in Fleisch), und wär doch schade drum, oder? Eine Nachbarin ist untröstlich, sie hatte mehrere Kilo Fleisch eingefroren, und jetzt verderben quasi ihre Ersparnisse im abtauenden Eisschrank…
Schade drum, aber wir essen die Arepa (Mais- oder Weizenfladen und Hauptnahrungsmittel in Venezuela) auch ohne Gammelfleisch, überhaupt die Arepa! Wenn es die nicht gäbe…
Nur nachts lodern die Feuer der Straßenproteste, und ich höre Topfschlagen und Gebrüll: „Maduro!“ – und die Menge antwortet mit einer Beschimpfungs-Tirade. Die Kinder der Nachbarschaft greifen den Ruf auf, brüllen ihn lustig in die mondlose Nacht. Am nächsten Tag werden wieder rauchende Barrikaden aus Autoreifen und Müll und urbanem Grün auf einigen Straßen liegen. Tapfere Freiwillige werden anfangen aufzuräumen. Die Geier werden auf die Denkmäler und Müllhaufen zurückkehren. Wir machen sowas nicht. Bringt s nicht. Macht alles nur schlimmer. Man sagt, dass die Proteste zum Teil von der Opposition gekauft sind (bzw. die Protestierer*innen). Möglich wäre das… Gerüchte, Gerüchte…
72 Std. ohne Strom. Es beginnt zu regnen. Wir beschließen, auf jeden Fall am nächsten Tag aufzubrechen, ob nach Estiguates in die Berge von Trujillo oder gleich nach Barquisimeto, ist noch offen.
Wir sind letztlich doch unserem ursprünglichen Plan treu geblieben und haben uns in den Bus Richtung Valera/ Trujillo gesetzt, in der Hoffnung, dass Hugo, ein Companero der Agrarkooperative in Estiguates, auch seiner letzten Verabredung mit Marian per Whatsapp treu bleibt und uns an der Haltestelle „Quebrada“ (echt: kein Witz aus einem Italo-Western!) abholt. Das war vor dem „Apagon“ gewesen, diesem wahrlich galaktischen Stromausfall.
Der 4. Tag ohne Strom, und ich habe noch etwa 10$ und 11.000 BS in der Tasche, das muss bis Barquisimeto und für 2 Personen für 1 Woche reichen.
Immerhin fahren die Busse, woher auch immer sie Treibstoff bekommen. Aber natürlich fahren nur wenige, und die müssen dann auch voll sein. Dadurch verzögert sich die Abfahrt in Merida um satte 2 Std. Marian wird nervös, denn je später wir ankommen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass Hugo noch da ist, und umso schwieriger wird es für uns sein, am selben Tag nach Barquisimeto weiter zu kommen. Ich habe die Verantwortung längst abgegeben: das wollte ich doch, ohne Netz und doppelten Boden leben, oder doch nicht?! Wird schon klappen! Auch ohne Netz und Empfang und Informationen, vielleicht sind ja ohnehin die Gringos schon einmarschiert… Jedenfalls hat angeblich Guaido 17 Ingenieure in den „Guri“ geschickt, die werden`s richten, bestimmt! – Was die Leute im Bus und auf dem Markt so reden…
Wir sind tatsächlich in „La Quebrada“ gestrandet (zufällig blieb unser Bus genau dort mit Motorschaden liegen, echt: auch kein Witz!), und Hugo war da. Mit einer robusten Pritsche haben wir nach weiteren 3 Stunden über steile Bergpisten auch das Haus der Kooperative von Estiguates erreicht, im empfindlich kalten Nebel auf 2500m Höhe. Pünktlich zu ihrer montäglichen Versammlung: 16 Kartoffel-Bauern mit Cowboyhüten auf den Köpfen und schmutzigen Gummistiefeln an den Füßen auf roten Plastikgartenstühlen im Versammlungshaus: herzlich willkommen, gleich gibt es süßen Kaffee, der Generator wummert, alle laden ihre Handies und Taschenlampen, aber sie wissen auch nicht viel mehr als wir…
Fakt ist, dass die Ferias (Markthallen) in Barquisimeto in dieser Krise die Entscheidung getroffen haben, auf Kredit, auf Pump zu verkaufen, d.h. auf bloßes Vertrauen. Zehntausenden von hungrigen Menschen in der stromlosen Großstadt. Leider war ich bei dieser ebenfalls episch zu nennenden Entscheidung nicht dabei!
Fakt ist weiter, dass eine der Ferias, „Ruiz Pineda“, von Plünderern angegriffen wurde, dass aber die Kundschaft/ die Community die Polizei geholt hat, die auch wirklich gekommen ist und den Angriff beendet hat.
Fakt ist weiterhin, dass sie auf den Ferias die ganze Woche weiterarbeiten werden, um alle Kundschaft bedienen zu können, alle handschriftlichen Kredit-Listen abzuarbeiten. Die wenigsten haben Zweifel: die Leute werden bezahlen. Und die Verluste werden die Agrarkooperativen dann ggf. mittragen. Doch in dieser Woche werden sie hier in Estiguates keine Möhren und Kartoffeln nach Barquisimeto schicken, zu weit, zu gefährlich, zu unklar die Situation.
Ich will nichts beschönigen: in den Städten waren die Tage ohne Strom ein absoluter Notstand. Die ohnehin prekären Versorgungssysteme sind völlig zusammengebrochen. Und natürlich gab es Plünderungen, Proteste, Not und Gewalt, auch in Barquisimeto war die Lage sehr angespannt. Wir hatten Glück, denn auf dem Land, und so abgelegen in den Bergen ohnehin, ist es in so einer Situation viel leichter: es gibt z.B. immer frisches Wasser. Und die Bauern der Kooperativen sind gut ausgerüstet, sie haben zu essen, sie haben große Fässer voll Treibstoff und Flaschengas zum Kochen, sie haben einen Generator und v.a. kennen sie ihre Nachbarn, ist ja alles Familie auf die eine oder andere Weise, und man kann sich aufeinander verlassen.
Nach einer geruhsamen Woche, in der wir an jedem Tag bei der Familie eines anderen Companeros zu Gast waren, sind wir zurück nach Barquisimeto gereist, eine abenteuerliche Fahrt von 8-10 Stunden von den Anden hinab in die stickige, staubige Hitze der Ebenen. Dieses Land ist so großartig und dabei so zerrüttet, so zugrunde gewirtschaftet, so kaputt, so gefährlich, dass es weh tut. Die Bauern von Estiguates machen diese Reise einmal pro Woche. Mir reicht der Trip einfach und zur Hälfte im Bus. Dennoch: die positiven Geschichten überwiegen…