Alltag in der Krise

27. Februar 2019 / von Farina

Nach 2 Wochen bei den Companeras von 8 de Marzo will ich Euch ein paar Eindrücke vom ganz normalen Wahnsinn hier in Venezuela auf dem Land schildern, und zwar ganz ohne Bilder von Protesten und brennenden Hilfskonvois. Die Grenzen sind weit weg, die Desinformation grassiert, die Netzabdeckung ist löchrig. Was bleibt, ist das Jetzt und Hier, und ja: ein überlebensnotwendiges Gefühl von „Wir“.

26.02.
Ich bin in Barquisimeto angekommen und habe mich für den Tag und eine Nacht im Gästehaus der Escuela bei der Feria Central einquartiert. Seit 17h bin ich hier ganz allein, keine Gäste heute, keine Companer@s aus anderen Kooperativen, nur irgendwo draußen am Zaun um das riesige Gelände der Feria gibt es wohl ein paar Wachleute. Ich genieße es, auch einmal ganz allein zu sein, und überraschenderweise ist es hier mitten in der Stadt recht ruhig, entfernter Verkehrslärm, manchmal Stimmengewirr. Der Fernseher in der Küche kann heute mal wieder nur Staatsfernsehen, Maduro hat einen internationalen Kongress anberaumt, die globale Linke drückt ihre Unterstützung aus, es wird gelobhudelt und sichsolidarisiert, dass es mir schnell sehr langweilig wird. Und auf allen Sendern dasselbe Bild…
Nach 2 Wochen auf dem Land bei der Kooperative 8 de Marzo bin ich ausgehungert nach „echten“ Nachrichten, nach Bildern, denn wir hatten kaum Internet dort, Kabelklau, Misswirtschaft, mangelnde Wartung der Systeme, Korruption, das Übliche halt. Gerüchte über die Geschehnisse an den Grenzen sind durchgedrungen, aber nichts Gewisses, nichts von Belang für den alltäglichen Wahnsinn.
Nachdem ich mir wenigstens ein paar ARD-Berichte der letzten Tage angesehen habe, versuche ich nun, selber ein paar Eindrücke aufzuschreiben.

  1. Wir hier
    Mir begegnen hier täglich unglaublich nette, offene, gastfreundliche, interessierte und herzliche Menschen, und die Art und Weise, wie sie den durchaus harten und schwierigen Alltag mit Solidarität und Humor meistern, beeindruckt mich zutiefst! Wir arbeiten viel, wir diskutieren, organisieren, reflektieren viel, und wir gehen in kleinen Schritten auf die Welt zu, in der wir einmal leben wollen. Wir gehen vom Jetzt und Hier aus und davon, was oder wer wir gerade sind, und nicht davon, was oder wer wir gerne wären.
    Sicher geht es uns hier besser als sehr vielen im Land, weil wir Teil eines solidarischen Netzes sind, das die Krise wenigstens abmildert. Und weil wir stetig an den solidarischen Beziehungen untereinander arbeiten.
    Wir müssen z.B. nicht hungern, im Gegenteil habe ich mit meinem komischen deutschen Verdauungsapparat echte Schwierigkeiten, die Menge an Essen pro Mahlzeit zu bewältigen, die hier 3x am Tag auf den Tisch kommt: Reis, Bohnen, Gemüse, Fleisch, Salat, Pasta, Obst, die unausweichlichen Arepas, der pappsüße Kaffee… überhaupt ist das Essen eines der dominanten Themen, denn in Wirklichkeit wissen natürlich auch hier bei Cecosesola alle, dass das gesamte Versorgungssystem fragil ist. Man lebt von Tag zu Tag, wer weiß schon, was es morgen noch zu kaufen gibt oder wie viel das Geld morgen noch wert ist?! Dann gibst du es lieber heute aus, und zwar am besten für Essen, sparen macht keinen Sinn und für Luxusgüter wie Shampoo müsstest du schon anfangen zu sparen, die gibt es dann halt eben nicht. Und sollte am Ende einer harten Arbeitswoche noch ein bisschen Geld für Schnaps und Bier übrig sein, dann wird auch gern gefeiert, egal zu welchem Anlass, folkloristisch, religiös, wegen Karneval oder einfach weil Freunde zu Besuch kommen, man muss die Feste feiern wie sie fallen!
  2. Die Arbeit bei 8 de Marzo
    Derzeit (d.h. hoffentlich bald wieder, denn gerade diese Woche gibt es kein Mehl, die Produktion ruht) wird eine Pasta aus Vollkornweizen (und nicht aus Vollkorngrieß) produziert, es wird Weizenkleie geröstet und abgepackt, Sojagranulat und Mais und Hülsenfrüchte werden gewogen und eingetütet, wenn Zeit ist und Material geliefert wurde, dann werden auch Kekse oder Brot gebacken oder aus Fruchtpulpe Eis gemacht. Donnerstags organisiert die Kooperative einen Gemüsemarkt in der 3km entfernten Kleinstadt, das Gemüse kommt von assoziierten kleinbäuerlichen Betrieben aus der Umgebung. Freitags werden am Nachmittag für bis zu 800 Kundinnen die Nummern ausgelost, damit am Samstag die Einkäufe im kleinen Supermarkt der Kooperative geordnet ablaufen können und sich keine der sonst üblichen langen Warteschlangen bilden. Knappe Ware wird rationiert, damit alle dasselbe bekommen können und am Ende keineR leer ausgeht. Wenn allerdings mehr als 800 Konsument*innen zur Verlosung kommen, dann entscheidet das pure Glück, wer etwas bekommt und wer nicht…- harte Sitten? Was wäre denn gerecht? Sie haben es den Leuten erklärt, und sie haben es verstanden. Auch, dass es eine Form von Gerechtigkeit ist, dass die Mitarbeiter*innen der Kooperative schon am Freitag einkaufen dürfen, dieselben Mengen zu denselben Preisen, sonst könnten sie nämlich das Ganze gar nicht organisieren…- Privileg? Diese Welt ist kompliziert, und die Navigation durch diese Zustände ein Abenteuer.
    Das Einkaufen bei den Kooperativen hat den großen Vorteil von fairen und stabilen Preisen, man kann natürlich auch auf der Straße einkaufen und in anderen Läden, aber zu wesentlich teureren Preisen. Es gibt auch eine staatlich organisierte Verteilung von Grundnahrungsmitteln, doch sie ist sehr unzuverlässig und in manchen Gegenden, in manchen Barrios schon komplett zusammengebrochen bzw. von Korruption und Vetternwirtschaft förmlich aufgefressen worden.
  3. Der alltägliche Wahnsinn
    Alle drei Tage kommt Wasser, die Tanks an jedem Haus werden von Tanklastwagen gefüllt. Meistens. Manchmal auch nicht, jedenfalls müssen wir schon sorgfältig mit dem Wasser umgehen, aber wir im Haus der Kooperative können immer noch die Nachbarinnen zum Duschen einladen, wenn bei ihnen und ihren großen Familien das Wasser schon zur Neige geht…
    Gas ist knapp, gestern musste die Weizenkleie-Rösterei vorübergehend eingestellt werden deswegen. Gekocht wird dann halt auf einem Feuerchen hinter dem Haus. Alles geht immer irgendwie, nur nicht aufgeben.
    Seit Weihnachten sind die meisten Schulen zu, die Unis laufen auf Sparbetrieb, denn die Lehrkräfte können von ihrem mickrigen Gehalt nicht leben, aufgrund der hohen Kosten für den Transport zahlen einige förmlich drauf, wenn sie noch zur Arbeit gehen. Viele Akademiker*innen sind ausgewandert. Manche unterrichten aus Solidarität wenigstens ein paar Stunden in der Woche und werden von den Kooperativen durch ein Mittagessen unterstützt. Kinderbetreuung? – Auch das Mitarbeiten in der Kooperative ist ja irgendwie lehrreich und eine Art von Betreuung…- die Kinder jedenfalls genießen ihre Freiheiten durchaus!
    Der öffentliche Nahverkehr (und nah kann auch ganz schön weit sein!) existiert zwar, ist aber völlig unzuverlässig geworden und im wahrsten Wortsinn unberechenbar: die Busfahrt nach Barquisimeto kostete letzte Woche noch 1300 b.s., heute sind es bereits 2000.- , und vielleicht kostet es heute Abend schon wieder mehr, wer weiß das schon?!
  4. Geld (wir rechnen in Bolivares Soberanos)
    Heute kostet 1kg Gemüse/ Obst (außer Yuca und Kartoffeln, die sind billiger) 1650 b.s.. Vor drei Wochen waren es noch 970 b.s.
    Zur Orientierung: der gesetzliche Mindestlohn (und die Rente) beträgt 16.000 b.s. (ca. 5 $ oder 4,40€) im Monat. Cecosesola bezahlt ein Anticipio (Lohn) von 50.000 (wöchentlich, für die Ferias); 8 de Marzo bezahlt den Companeras 100.000 (monatlich)

Und obwohl der „Soberano“ schon diverse Nullen weniger hat als der ursprüngliche Bolivar, schleppst du trotzdem eine Menge Papier durch die Gegend, wenn du Einkäufe machen willst.
Deshalb brauchst du zum Überleben eine Geldkarte, mir hat eine Companera der Escuela eine der ihren geliehen. Sie hat auch die Aufladung und das Geldwechseln für mich erledigt, und ich bin ihr im Angesicht der langen Schlangen vor den Banken unendlich dankbar dafür! Zumal ich ja gar kein Konto hier hätte und gar nicht wüsste, wo ich einen fairen Wechselkurs bekomme.
Mit Karte kann man fast überall bezahlen, nur der öffentliche Nahverkehr und die Straßenhändler müssen „en efectivo“, also in bar bezahlt werden. Ich also los, mit dem Geldtäschchen voller dicker Scheine, und schwupps! bin ich für ein bisschen Obst und 2 Karotten auf dem Straßenmarkt ein paar Tausender los. Geld ist ja grundsätzlich eine eher absurde Angelegenheit, aber hier wird die ganze Absurdität wirklich sichtbar, spürbar, erlebbar. Und dann ist bizarrerweise das Geld auf der Straße auch knapp. Obwohl alle alles daran setzen, es schnell wieder auszugeben, bevor es schon wieder seinen Wert verloren hat. Und das alles in $ oder gar € umzurechnen, macht auch nicht viel Sinn, denn so kommen mir viele Preise normal oder sogar sehr günstig vor. Ich versuche es also mit Verhältnismäßigkeiten, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Noch viel komplizierter wird das alles, wenn du so exotische Dinge wie Ersatzteile oder Reifen für ein Auto kaufen willst, das sind dann schon Beträge, die in $ gerechnet werden, und da sträuben sich auch mir die Nackenhaare…

5. Geschichten
Alle haben welche, tragische Geschichten und Schicksale. Krankheiten, kein Geld und keinen Zugang zu Medikamenten, Verwandte oder Freunde, die an Krebs sterben, auswandern, verrückt geworden sind, sich umgebracht haben. Uneheliche Kinder. Streit zu Hause, schlechte Zähne, keine Brille, kaputte Schuhe.
Gegen das Unwesen der Plünderei auf dem Land haben sie Brigaden organisiert, eine Art Bürgerwehr, bewaffnete Männer auf Mopeds. Trotzdem ist einer Companera auf offener Straße ihr Handy gezockt worden – mit vorgehaltener Waffe. Natürlich macht mir das Angst, aber ich bin es halt auch nicht gewöhnt. Mein normales Leben in Deutschland ist eines mit Netz und doppeltem Boden, privilegiert, abgepuffert und weichgezeichnet. Du kannst dich an alles gewöhnen. Auch daran, ohne Netz und doppelten Boden zu leben. Und irgendwann halt auch zu sterben. So war das immer, so sind die Menschen, so ist das Leben.

6. Politik
Tja, was soll man dazu sagen? Natürlich wünschen sich alle hier, dass sich bittebitte etwas ändern möge, aber gleichzeitig ist allen klar, dass es mit einem neuen Gesicht an der Spitze des Staates nicht getan ist. Der ganze Staat ist marode, korrupt, unglaubwürdig. Es ist auch nicht mit „humanitärer Hilfe“ (alle sprechen das so und in Anführungszeichen aus) getan, das ist nur symbolisch, und die Gringos mögen sie hier alle nicht, auch wenn die wenigsten Regierungstreue sind. Es ist wichtig zu verstehen, dass Venezuela nicht nur aus Maduro-Anhängern und Oppositionellen besteht! Der weitaus größte Teil der Venezolaner*innen bekennt sich nicht, sondern ist völlig damit beschäftigt, schlicht und ergreifend zu überleben.